Datenbank zur Schulblatt-Kolumne
Der schmale Grat von der «Strafarbeit» zum Strafentscheid
In einer Sekundarschulklasse wurde der reguläre Musikunterricht derart gestört, dass der Musiklehrer zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung anordnete, die Schülerinnen und Schüler müssten einen Text über einen Musiker abschreiben. Vor Verlassen des Klassenzimmers am Ende des Unterrichts sollte jede und jeder Einzelne diese «Strafarbeit» nacheinander beim Lehrer abgeben. Zu diesem Zweck setzte sich dieser mit einem Stuhl unmittelbar neben die Ausgangstüre des Klassenzimmers.
Am Ende der Schulstunde drängelten sich die Jugendlichen, von denen einige das Klassenzimmer möglichst schnell verlassen wollten, vor dem Lehrer und versuchten diesem ihre Texte zu übergeben. Der Lehrer beharrte indes darauf, diese einzeln entgegenzunehmen und zu kontrollieren. Dadurch verzögerte sich der gesamte Abgabevorgang. Ein Schüler, dem es einige Minuten lang nicht gelang, den Text abzuliefern und das Klassenzimmer ohne Missachtung der Anweisung des Lehrers zu verlassen, verständigte mit seinem Mobiltelefon die Polizei und gab an, ein Lehrer halte die Schulklasse im Schulzimmer fest. Es folgte eine Strafanzeige gegen den Lehrer.
Es fragt sich, ob das Verhalten des Lehrers als Freiheitsberaubung oder Nötigung zu qualifizieren ist. Für die Annahme einer Freiheitsberaubung ist entscheidend, ob es jemandem aufgrund des Verhaltens des Lehrers unmöglich war, das Klassenzimmer zu verlassen. Dies war nicht der Fall. Es kam zwar beim Abgabevorgang zu einem Staueffekt. Der Lehrer hatte aber den Türausgang nicht blockiert, um die Schülerinnen und Schüler am Verlassen des Klassenzimmers zu hindern. Die blosse Anweisung, das Klassenzimmer nicht vor Abgabe der Texte zu verlassen, stellt kein solches Hindernis dar, auch wenn die Klasse ihr aus Angst vor disziplinarischen Massnahmen nachgekommen sein sollte.
Eine Nötigung liegt ebenfalls nicht vor. Der Umstand, dass eine Schülerin oder ein Schüler eine disziplinarische Ahndung ihres Verhaltens in Kauf nehmen mussten, wenn sie entgegen der Anweisung des Lehrers das Klassenzimmer verlassen hätten, stellt keine Androhung ernstlicher Nachteile und auch keine andere Beschränkung der Handlungsfreiheit dar. Ausserdem fehlt es an der Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Lehrers, denn der verfolgte Zweck war – jedenfalls objektiv betrachtet – im Interesse der Jugendlichen. Die ordnungsgemässe Erfüllung der erteilten Aufgaben und Anweisungen ist Gegenstand des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule und der Lehrpersonen im Besonderen.
Der Lehrer wurde von der ersten Gerichtsinstanz dennoch der Freiheitsberaubung schuldig gesprochen, von der zweiten aber freigesprochen. Die zweitinstanzlichen Richter sollen anlässlich der Verhandlung die Einstellung des Verfahrens angeregt haben und dazu ausgeführt haben, der Sachverhalt sei ungeeignet, um von einem Strafgericht entschieden zu werden. Die engagierte Staatsanwältin sah das allerdings anders und hat Revision gegen den Freispruch des Lehrers eingereicht.
Stephan Hördegen, Leiter Abteilung Recht im ED Basel-Stadt
Das diesem Beitrag zugrunde liegende – noch nicht rechtskräftige – Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 17.02.2017 (Aktenzeichen 5 Ns 63/16) ist nachlesbar unter: https://www.justiz.nrw/BS/nrwe2/index.php.