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Ein verspätetes Erscheinen zur Prüfung ist kein freiwilliger Prüfungsabbruch
Eine Prüfungskandidatin, die im Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) die erste juristische Prüfung absolvierte, erschien ohne triftigen Grund fünf Minuten zu spät zu einem mehrteiligen Prüfungsgespräch mit anderen Prüfungsteilnehmenden. Die Prüfungsleitung verweigerte ihr die Teilnahme am (weiteren) Prüfungsgespräch, obwohl die Kandidatin nachdrücklich darum ersucht hatte. Die zuständige Prüfungsbehörde erklärte daraufhin die gesamte juristische Prüfung für nicht bestanden. Sie stützte ihren Entscheid auf eine Vorschrift des Juristenausbildungsgesetzes NRW, wonach die juristische Prüfung für nicht bestanden zu erklären ist, sobald ein Prüfling «ohne genügende Entschuldigung den Termin [für die mündliche Prüfung] nicht bis zum Ende der Prüfung wahrnimmt». Gemäss Prüfungsbehörde sind davon nicht nur Fälle erfasst, in denen ein Prüfling die Prüfung ohne triftigen Grund freiwillig abbreche, sondern auch alle Fälle, in denen einem Prüfling die Teilnahme an der Prüfung wegen eines auf den Termin bezogenen vorwerfbaren Verhaltens – wie hier der Verspätung der Kandidatin – verweigert werde.
Nachdem sich die Kandidatin gegen den Entscheid auf dem Rechtsmittelweg zur Wehr gesetzt hatte, schob erst das deutsche Bundesverwaltungsgericht der juristisch abenteuerlichen Interpretation der prüfungsrechtlichen Sanktionsnorm durch die Vorinstanzen den Riegel vor. Es stellte klar, dass bei einer verfassungskonformen Auslegung davon nur die Fälle erfasst werden, in denen ein Prüfling eine bereits begonnene Prüfung freiwillig ohne triftigen Grund abbricht. Zweck der Norm sei, ein beliebiges Aussteigen eines Prüflings und eine damit verbundene einseitige Änderung der Prüfungsbedingungen zu seinen Gunsten (unter anderem durch mehr Vorbereitungszeit bei einem Nachholtermin) zu verhindern. Im vorliegenden Fall sei es aber nicht um einen missbräuchlichen Ausstieg aus der Prüfung, sondern um ein Fehlverhalten – die Verspätung der Kandidatin – gegangen. Hierfür sei die Sanktionierung mit dem Nichtbestehen unverhältnismässig. Neben dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit werde auch das – aus dem Gesetzmässigkeitsprinzip fliessende – prüfungsrechtliche Bestimmtheitsgebot verletzt. Danach müsse die Anwendung einer Sanktionsnorm für die Kandidatinnen und Kandidaten vorhersehbar sein, was bei der extensiven Interpretation der Vorinstanzen im konkreten Fall nicht mehr gegeben sei. Das Bundesverwaltungsgericht hob den Entscheid der Prüfungsbehörde schliesslich auf und wies diese an, die Klägerin erneut zur Prüfung zuzulassen.
Auch das schweizerische Bundesverwaltungsgericht hat in einem Fall, in dem ein Kandidat infolge des unentschuldigten verspäteten Erscheinens im Warteraum vor der mündlichen Prüfung – also nicht zum eigentlichen Prüfungstermin – wegen «grober Verletzung der Prüfungsdisziplin» von der Prüfung ausgeschlossen wurde, das Erfordernis der genügenden Bestimmtheit von prüfungsrechtlichen Sanktionsnormen hochgehalten. Aus diesen ergab sich im konkreten Fall weder die Sanktion (Ausschluss) noch eine entsprechende Verhaltenspflicht oder -obliegenheit (rechtzeitig im Warteraum einzutreffen), weshalb das Gericht den Prüfungsausschluss für unrechtmässig erklärte.
Von Stephan Hördegen, Leiter Abteilung Recht