Datenbank zur Schulblatt-Kolumne
Nachteilausgleich darf nicht zur Bevorzugung führen
Eine Schülerin mit einer Dyskalkulie und ein Schüler mit einer Dyslexie machen für die Abschlussprüfungen an der Wirtschaftsmittelschule (WMS) Nachteilsausgleiche geltend. Sie beantragen in den Prüfungsfächern Mathematik bzw. Deutsch neben einem Zeitzuschlag auch eine mildere Bewertung bzw. die Nichtbewertung der Rechtschreibung (Notenbonus). Beim Nachteilsausgleich ist stets zu beachten, dass niemand durch eine Prüfungsanpassung gegenüber anderen Kandidatinnen und Kandidaten bevorzugt wird. Ziel der Prüfungsanpassung ist nur der Ausgleich der aus der Behinderung resultierenden Nachteile, nicht aber eine Besserstellung. Anpassungsmassnahmen dürfen nicht dazu führen, dass zentrale Fähigkeiten, deren Vorhandensein die in Frage stehende Ausbildung bzw. Prüfung voraussetzt, nicht mehr verlangt werden. Massgeblich für die Bestimmung des Umfangs von Prüfungsanpassungen sind das Lernziel des Faches und der Prüfungszweck.
Der Prüfungszweck im Fach Mathematik besteht in der Überprüfung der mathematischen Leistungsfähigkeit, die bei der Schülerin mit Dyskalkulie eingeschränkt ist. Eine Prüfungsanpassung, die (allein) am Nachteil der verminderten mathematischen Leistungsfähigkeit anknüpft, erscheint praktisch nur im Sinne einer inhaltlichen Anpassung bzw. Reduktion der Anforderungen möglich. Kann die betreffende Schülerin selbst mit einem Zeitzuschlag keine Leistungen erbringen, die über ihren mathematischen Fähigkeiten liegen, rechtfertigt sich keine entsprechender Nachteilsausgleich. Ein Notenbonus kommt insbesondere deshalb nicht in Frage, weil mathematische Fähigkeiten zu den zentralen Fähigkeiten der kaufmännischen Ausbildung an der WMS gehören. Dasselbe gilt für sprachliche Kompetenzen, insbesondere auch die Fähigkeit, einen orthografisch korrekten Text zu verfassen. Deshalb rechtfertigt sich beim Schüler mit Dyslexie eine Nichtbewertung der Rechtschreibung als Nachteilsausgleich nicht. Diese würde vielmehr zu einer Bevorzugung gegenüber anderen Kandidatinnen und Kandidaten führen, zumal sich typische Dyslexiefehler kaum eindeutig eruieren lassen. Beim Schüler mit Dyslexie rechtfertigt sich als Nachteilsausgleich aber ein Zeitzuschlag, sofern er dadurch nachweisen kann, dass die sprachlichen Fähigkeiten an sich vorhanden sind.
In der Schulpraxis sind Notenboni bei Schülerinnen und Schülern mit Dyslexie sowie Dyskalkulie anzutreffen. Das Problem solcher inhaltlichen Nachteilsausgleiche ist neben der Gefahr einer Bevorzugung vor allem auch, dass sie im Zeugnis nicht vermerkt werden dürfen. Bei Zeugnissen, die einer Schülerin oder einem Schüler attestieren, über die für die Ausübung eines Berufs notwendigen Fähigkeiten und/oder über die Hochschulreife zu verfügen, reibt sich dies mit dem öffentlichen Interesse an vergleichbaren und aussagekräftigen Zeugnissen. Wird die Aussagekraft von Zeugnissen verwässert, wirkt sich das auch negativ auf die Qualität der Ausbildung aus.
Stephan Hördegen, Leiter Abteilung Recht, ED Basel-Stadt
Der Beitrag beruht auf dem Entscheid Nr. 7 H 14 254 des Kantonsgerichts Luzern vom 6. Juli 2015 (https://gerichte.lu.ch/recht_sprechung) sowie auf dem Entscheid Nr. 350.86/15 der Erziehungsdirektion des Kantons Bern vom 21. März 2016 (www.erz.be.ch).